Paradoxien der Legitimation. Kulturhistorische Analysen zur Macht im Mittelalter. Trilaterale Forschungskonferenz

Paradoxien der Legitimation. Kulturhistorische Analysen zur Macht im Mittelalter. Trilaterale Forschungskonferenz

Organisatoren
Fondation Maison des Sciences de l'Homme (Paris), Villa Vigoni (Loveno di Menaggio) und DFG (Bonn), durchgeführt von Annette Kehnel (Mannheim / Federführung) mit Cristina Andenna (Matera Potenza), Cécile Caby (Nizza) und Gert Melville (Dresden)
Ort
Loveno di Menaggio
Land
Italy
Vom - Bis
22.05.2008 - 25.05.2008
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Von
Annette Kehnel

Zum dritten Mal tagten vom 22.-25. Mai 2008 die Mitglieder der deutsch-italienisch-französischen Forschungskonferenz in der Villa Vigoni am Comer See zum Thema „Paradoxien der Legitimation. Kulturhistorische Analysen zur Macht im Mittelalter / I paradossi della legittimazione. Analisi storico-culturali del potere durante il Medioevo / Les paradoxes de la légitimation. Analyses historico-culturelles du pouvoir au Moyen Âge“, durchgeführt von Annette Kehnel (Mannheim) in Zusammenarbeit mit Cristina Andenna (Matera Potenza), Cécile Caby (Nizza) und Gert Melville (Dresden). Konzeption und Organisation des Internationalen Forschungsprojektes geschah am Historischen Institut der Universität Mannheim.

Das erste Treffen der Mitglieder der Forschungskonferenz hatte im März 2007 stattgefunden und fragte nach den Paradoxien der Legitimation in Konzentration auf den Körper.1 Zum zweiten Mal tagten die Mitglieder im Oktober 2007 zum Thema Zeit.2 Die dritte Tagung im Mai 2008 untersuchte abschließend die Paradoxien der Legitimation unter besonderer Berücksichtigung des Raumes.

Die Tagungen fanden statt im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen, ausgeschrieben und finanziert von der Fondation Maison des Sciences de l'Homme (Paris), der Villa Vigoni (Loveno di Menaggio) und der DFG (Bonn). Es handelt sich bei dieser Forschungskonferenz um eine Maßnahme, die den wissenschaftlichen Austausch zwischen französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Wissenschaftlern und den aktiven Gebrauch dieser Sprachen als Wissenschaftssprachen fördern möchte. Dieses Konzept – das sei hier vorweggenommen – hat sich bestens bewährt.

Da die Förderung der trilateralen Forschungszusammenarbeit in diesem Fall eines der wesentlichen Projektziele darstellt, das auch die Forschungsergebnisse maßgeblich beeinflusst, seien hier einige allgemeine Bemerkungen zum Konzept der deutsch-italienisch-französischen Forschungskonferenz vorangestellt: Dass es möglich ist, in diesen drei Sprachen internationalen wissenschaftlichen Austausch zu leisten, haben die drei Tagungen unter Beweis gestellt. Die international besetzte Forschungskonferenz – die Mitglieder kamen aus Italien, Frankreich, Deutschland, England, Argentinien, Russland, der Schweiz und den USA – hat sich im Abstand von jeweils einem halben Jahr drei Mal getroffen. Der italienisch-deutsche Charme der Villa Vigoni am Comer See machte den Gebrauch der Tagungssprachen Italienisch, Deutsch und Französisch zur Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus bot die Villa den idealen Raum für internationale Begegnung und vor allem für „Wiederbegegnung“. Letzteres hat sich im Laufe der drei Tagungen als eine der wichtigsten konzeptionellen Voraussetzungen für eine nachhaltige internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit erwiesen: Der dreiphasige Tagungsrhythmus räumte dem Unternehmen einen Vertrauensvorschuss ein, der es den Mitgliedern ermöglichte, Kontinuität und damit auch langfristige Kontakte herzustellen. Die generationenübergreifende Zusammensetzung der Forschungskonferenz – die Hälfte der Mitglieder wären zu jener Altersklasse zu zählen, die jedenfalls in den Geisteswissenschaften noch immer als ‚Nachwuchs‘ gelten – sorgte unter anderem für eine außergewöhnlich intensive Einlassung auf das gemeinsame Tagungsthema. Auch hier hat sich die Vorgabe der besonderen Berücksichtigung von NachwuchswissenschaftlerInnen sehr positiv ausgewirkt. Dass dann ausgerechnet der selbsternannte „Alterspräsident“ der Forschungskonferenz, der Soziologe und heimliche Mediävist Alois Hahn (Trier), gleich bei der ersten Tagung zu mehr Experimentierfreude riet und einen Workshop zum Thema Zeit für die zweite Tagung anbot, bestätigte jedoch aufs Neue, dass Vorstellungskraft und Motivationsressourcen jedenfalls in den Geisteswissenschaften nicht an ein bestimmtes Lebensalter gebunden werden können.

Eine weitere, vielleicht die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der trilateralen Forschungskooperation war die ebenso professionelle wie flexible Unterstützung durch die Villa Vigoni unter Leitung von Aldo Venturelli und seit Februar 2008 von Gregor Vogt-Spira samt dem Team von Simona Della Torre, Nicoletta Redaelli und Francesca Salvadè. Von der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes durch Christiane Liermann und Caterina Sala profitierten alle Beteiligten: Ihre langjährige Erfahrung in den verschiedenen Wissenschaftssystemen ließ den Mehrwert der trinationalen „Vielfalt“ im Kampf mit der Angst vor Komplexitätsverlusten in den je nationalen Forschungstraditionen immer obsiegen. Was bleibt, ist nicht zuletzt das Vertrauen in die Produktivität von – ohne Zweifel immer unvermeidlichen – Missverständnissen.

Es folgt nun der inhaltliche Bericht zur dritten Tagung der Forschungskonferenz „Paradoxien der Legitimation“, die unter dem Titel „Raum“ stand, sowie einige rückblickende Bemerkungen zur ersten und zweiten Tagung:

Eröffnet wurde die dritte Tagung mit einer einführenden Rekapitulation des bisherigen Geschehens in der Forschungskonferenz. Die Leitbegriffe ‚Legitimation‘ und ‚Paradox‘ und die forscherliche Konzentration auf die so genannten kulturellen Paradoxien (oder „Paradoxien der Wirklichkeit“) wurden noch einmal in Erinnerung gerufen. Zunächst war es notwendig, diese kulturellen Paradoxien abzugrenzen gegen andere Formen der Paradoxie.3 Man unterscheidet a. Paradoxien des allgemeinen Sprachgebrauchs (= Aussagen, die gleichermaßen wahr sind, sich aber gegenseitig ausschließen, z.B. eine schwangere Jungfrau, ein unfreiwillig Freiwilliger) von b. formal-logische Paradoxien im engeren Sinne, zu denen auch die Antinomie zu zählen wäre (= Aussagen, die nur unter der Voraussetzung wahr sein können, dass sie falsch sind, also z.B. der Club, in dem nur jener Mitglied werden kann, der keinem Club angehört). Die dritte Gruppe c. kulturelle Paradoxien fasst jene Sorte unauflöslicher Widersprüche zusammen, die weniger als formallogische denn als „praktische“ oder „pragmatische“ Paradoxien erscheinen. In streng formallogischer Hinsicht lassen sich diese nicht selten als Pseudoparadoxien enttarnen, die dort entstehen, wo verschiedene Argumentationsebenen in unzulässiger Weise vermischt werden. Allein dies ändert nichts an ihrer kommunikativen Brisanz. Man mag das „Fortschrittsparadox“ als Pseudoparadoxie entlarven, dennoch bleibt es faszinierend zu beobachten „how life gets better, while people feel worse“.4 Man kann Paradoxien der Kommunikation auflösen, wenn man den Inhalt der Kommunikation ignoriert und statt dessen über die Form der Kommunikation kommuniziert, dennoch bleibt ihre überragende praktische Wirkung unumstritten.5 Diese praktischen oder kulturellen Paradoxien scheinen sich auffällig zu häufen im Umfeld von Legitimationsprozessen. Es lässt sich eine irritierende Inderdependenz zwischen Geltungsbehauptungen und ihrer symbolischen Darstellung beobachten: Ein spezifisch widersprüchlicher Zusammenhang zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Anspruch und Wirklichkeit scheint alle Gründungsmythen menschlicher Zivilisationen zu markieren, wobei die Paradoxie darin besteht, dass Ordnung in der Unordnung, Heil im Unheil, Erfolg im Misserfolg, Größe in der Unbedeutendheit, Gnade in der Verworfenheit etc. gründet.

Die Strukturierung der Zugänge in drei systematisch aufeinander bezogenen Ebenen, nämlich in ihrer materiellen (körperlichen), zeitlichen und räumlichen Dimension hat sich bewährt: Die erste Tagung bündelte das Interesse im Hinblick auf den ohnmächtigen, verwundeten und stigmatisierten Körper des ‚Mächtigen‘. Die Vorträge sondierten die Körperlichkeit der Macht: Der Körper des Heiligen (Roberto Rusconi, Sabine von Heusinger, Klaus Krüger, Gert Melville), der Körper des Helden (Stephan Müller, Alois Hahn), der gedemütigten Körper des Herrschers und des Papstes (Agostino Paravicini Bagliani / Annette Kehnel). Die zweite Tagung lenkte den Blick auf die zeitliche Dimension der Paradoxien der Legitimation. Es kamen die verschiedenen, vielfach paradoxen Rhythmen des mittelalterlichen Lebens zur Sprache (Jean Claude Schmitt), die paradoxen Zeitphänomene in der Schöpfung kollektiver Ursprungsgeschichten religioser Gemeinschaften (Cécile Caby) und städtischer Vergangenheiten (Daniela Rando) sowie in der Individualgenese des höfischen Helden (Ludger Lieb). Die Erwartung und Gestaltung von ‚Zukünften‘ (Hans-Joachim Schmidt / Christian Jostmann / Barbara Bombi), das Legitimationspotenzial des Archivs in seiner Funktion als virtueller „Zeitspeicher“ (Sébastien Barret) und das Potenzial der Tradition als Rechtsmittel und Fortschrittsgenerator (Christoph H. Meyer / Sophia Seegers / Jörg Schwarz) wurden thematisiert. In dieser zweiten Tagung wurde überdies und wie schon erwähnt ein für die Fortsetzung der trilateralen Kommunikation richtungweisendes Experiment erprobt: Exemplarisch für einen die gemeinsame Kultur fundierenden „Text“, diskutierten die Teilnehmenden in einem Workshop über das zehnte und elfte Buch der Confessiones von Augustinus zum Thema: „Quod ergo est tempus?“ Hier sei lediglich die viel diskutierte Funktion der Zeit als „Entparadoxierungsmaschine“ hervorgehoben: die Möglichkeit, das, was als unauflöslicher Widerspruch erscheint, durch Linearisierung in der Zeit aufzulösen (zu entparadoxieren), ist bestechend: Das Paradox der schwangeren Jungfrau z.B. wird dann gänzlich trivial: Erst Jungfrau, dann schwanger ist weder paradox noch widersprüchlich und wird allenfalls die ahnungslosen Eltern beunruhigen.

Die dritte Tagung konnte demnach anknüpfen an facettenreiche Vorträge und Diskussionen.

Der Freitagmorgen begann mit Vorträgen zu einem der paradoxieträchtigsten Kapitel der abendländischen Geschichte: der Geschichte des Franziskanerordens. Beide Vorträge problematisierten zunächst einmal die einstmals klassische Herangehensweise an hagiographische Quellen: Ein Herangehen, dass diese Texte sortierte in die Kategorien ‚historisch’ (real) und literarisch (fiktiv). Statt dessen schlägt JACQUES DALARUN (Paris) in seinem Vortrag zum Thema „Dallo spazio del corpo allo spazio universale. Stratigrafia e geografia dei miracoli postumi di Francesco d'Assisi in Celano e Bonaventura“ vor, eine „Topographie der Wunder“ des heiligen Franziskus nach der franziskanischen Hagiographie von Thomas de Celano bis Bonaventura zu unternehmen. Er beobachtet – entgegen jeder Erwartung – einen zahlenmäßigen Rückgang an Wundererzählungen in der franziskanischen Hagiographie im Laufe des 13. Jahrhunderts (einschließlich der von Dalarun neu entdeckten Légende ombrienne). In topographischer Hinsicht lassen sich die posthumen Wunder des Heiligen als Prozess einer räumlichen Expansion beschreiben. Dalarun spricht von Entgrenzung: Mit der zunehmenden räumlichen Entfernung der Wunder vom realen Körper des Heiligen (in Assisi) lässt sich eine Universalisierung der Geltungsräume des Ordens beschreiben.

TIMOTHY JOHNSON (St. Augustine, Florida), „Meraviglie in pietra e nello spazio: Le dimensioni teologiche dei racconti miracolosi in Celano e Bonaventura“ schlug vor, Hagiographie als ein theologisch-räumliches Genre der christlichen Kirche zu fassen, in deren Zentrum Wundererzählungen stehen. In Anknüpfung an Dalarun weist Johnson auf die zahlreichen Missverständnisse im traditionellen historisch-kritischen Umgang mit hagiographischen Quellen hin. Die kontemplative Funktion der hagiographischen Texte kann nicht als eine, im Rahmen der Textkritik zu eliminierende, den Quellenwert reduzierende Störung betrachtet werden. Vielmehr sind die Wunder ein zentraler Bestandteil jener spezifischen Identität, die im Chorraum der mittelalterlichen Ordenskirchen Verräumlichung fand. Johnson sprach vom „Liturgischen Imperativ“ der Messe: Tut dies zu meinem Gedächtnis! Es ist der gebetete Heilige, den die Mönche vor sich hatten, nicht der ‚historische‘. In diesem Kontext schafft der Chorraum jeder Franziskanerkirche mit dem Gebet der Brüder den liturgischen Text neu und ermöglicht die Präsenz des ‚gebeteten‘ Franziskus. Johnson untersucht die franziskanische Hagiographie vor diesem Fragehorizont weiter, und findet eine zunehmende Tendenz der räumlichen Entgrenzung, die bei Bonaventura kulminiert: In der vita maior des Generalministers – so Johnson – erlischt der Bezug zum Grab, zu Assisi oder zur Kurie nahezu gänzlich, es wird vielmehr die Macht des stigmatisierten Franziskus im Chorgebet und in der Performanz der Liturgie sowie in der Minoritischen Identität gefeiert. Franziskus wird im Orden verehrt nicht als wundertätiger Heiliger, sondern als Wunder.

LUIGI CANETTI (Ravenna/Bologna), “Chiese senza immagini. Il mito delle origini aniconiche e la sua fortuna in età medievale“, beschäftigt sich mit dem Kirchenraum als umstrittenem und umkämpftem Bildraum seit der Zeit der frühen Kirche. Er geht aus von einer fundamentalen Paradoxie der abendländischen Kultur, die sich in der Frage nach der Macht der Bilder entfaltet. Im weitesten Sinne geht es dabei um die Frage, inwieweit Institutionen ohne symbolische Repräsentationen in Bildern, Symbolen und Zeichen auskommen können. Denn dieser Anspruch scheint ja der Anspruch auf ‚Bildlosigkeit‘ der frühen Kirche zu implizieren. Vor diesem Hintergrund fragt Canetti nach den Ursprüngen des Mythos von den ‚an-ikonischen‘ Ursprüngen des abendländischen Christentum und lenkt den Blick auf die Brüche, Konflikte und Machtkämpfe in dieser Entwicklung. Konstantin I. und das von Eusebius von Cesarea geprägte Bild des ‚zweiten Mose‘, der die Götzenbilder zerstörte (analog wird Maxentius zum Pharao, der im Tiber sein Ende findet) findet seine paradoxe Ergänzung im Kaiser, der das Bildnis des guten Hirten in Auftrag gab. Canetti verortet sein Interesse an dieser Geschichte an der Kurie des späten 8. Jahrhunderts und im Kontext der Schöpfung eines Konstantinbildes, das auch die Entstehung der Konstantinischen Schenkung ermöglichte.

ANNE MÜLLER (Eichstätt), „Zur Symbolik klösterlicher Räume. Funktion des Klosters als Ort der Läuterung“, verknüpft die Funktionen des Purgatoriums mit denen des Paradieses. Sie untersucht den Niederschlag transzendenter Ordnungsprinzipien im mittelalterlichen Kloster. Nur die völlige Eingeschlossenheit garantiert den Gewinn absoluter Freiheit, indem der Mönch die Welt gänzlich ausschließt und zugleich innerhalb der durch Klostermauern markierten Grenzen gestaltend auf sie zugreift, gewinnt sein Lebensraum eine Offenheit, die ihm nichts weniger als den direkten Zugang zum Himmel eröffnet. Mit dem Kapitelsaal und dem Refektorium wurden zwei „Schlüsselräume“ des Klausurbereichs untersucht, im Hinblick auf die räumliche Ausgestaltung der symbolischen Transzendenz des Klosterlebens, auf die liturgischen und rituellen Handlungen. Der Bogen wurde vom utopisch vollkommenen Benediktinerkloster der Karolingerzeit über die Zisterzienser bis hin zu den frühen Mendikanten gespannt. Müller konnte eine Entwicklung aufzeigen: ein Weg der schrittweisen Perfektionierung des imaginierten Paradiesraums Kloster mit der Auflösung der sinnstiftenden Mauern und der statischen Raumordnung als Folge der Vereinnahmung der ganzen „Welt“ als Kloster durch die Bettelmönche.

MICHAIL BOYTSOV (Heidelberg/Moskau), „Nackt, geplündert und verlassen: eine Herrscherleiche zwischen jus spolii, Karneval und Zwei-Körper-Theorie“. Ausgehend von den Forschungen von R. Elze, Bertelli, C. Ginzburg, A. Paravicini Bagliani und von eigenen Arbeiten zu Praktiken der Entehrung, Plünderung und Beraubung der toten Päpste nahm Michail Boytsov die Paradoxien der Macht im weiteren Kontext des Herrschertodes in den Blick. Die aus dem Bereich der Kurie bekannten Bilder des ‚herrscherlosen‘ Machtraums in der Zeit zwischen dem Ableben des alten und der Wahl des neuen Herrschers fasst er auf als eine Zeit der regulierten kollektiven Exzesse. Boytsov sucht nach einer übergreifenden Interpretation dieses ‚herrscherlosen‘ Raumes nicht in erster Linie im Bereich des Rechts und der Spolierung, sondern vermutet eine spezifische kulturelle und psychologische Motivation hinter den Ritualen der Gewalt und der Beraubung des toten ‚ohnmächtigen‘ Herrscherkörpers. Diese These konkretisierte Boytsov an Beispielen aus der englischen Geschichte, beginnend mit Plünderungen herrscherlicher Leichenzüge und des herrscherlichen Besitzes im Hause Plantagenet seit Wilhlem I. (Ordericus Vitalis), Heinrich I. und Heinrich II. (Giraldus Cambrensis) und rekonstruiert eine Tradition der Herrscherplünderung im englischen Königshaus, die nicht auf verfassungsmäßige Probleme der theoretischen Sterblichkeit oder Unsterblichkeit weltlicher oder geistlicher Herrscher reduziert werden kann – man mag in diesem gut organisierten Ritual der Entblößung des toten Herrscherkörpers eine Inszenierung der paradoxen Grundlagen der Macht erkennen und zugleich eine Strategie zur Bewältigung des regelmäßig wiederkehrenden ‚Ausnahmezustands‘.

In seinem Vortrag zum Thema „Exil. Legitimation durch Unverfügbarkeit“ hob MARTIAL STAUB (Sheffield) zunächst hervor, das das Verhältnis von Exil und Dominium von einer doppelten Paradoxie gekennzeichnet sei. Die Ausgangsfrage war für ihn, in welcher Weise Exil, das Bewusstsein der Fremde und der räumlichen Distanz als Grundlage für die Herrschaft dienen kann. Beispiele dafür reichen vom Anspruch des Alten Israel auf das ‚Gelobte Land‘ über den Erfolg trojanischer Herkunftsmythen in der Geschichtsschreibung zahlreicher europäischer Völker im Mittelalter, über Italien im Spätmittelalters bis zur „Geburt des Humanismus aus dem Geiste des Exils“ bis zur Wiederherstellung der demokratischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg in Ländern wie Frankreich, Polen oder Italien, die ja in der Zusammenführung von Exil und Widerstand gelang.

Im Co-Referat von PETER STROHSCHNEIDER kam im Rückgriff auf das Eingangsreferat die Frage nach den Betrachtungsebenen noch einmal ins Spiel. Exil und Paradoxien seien gleichermaßen Differenzbegriffe, die mit Innen- und Außenkonfigurationen arbeiten. Kulturelle Paradoxien („wahrer Gott und wahrer Mensch“) sind dem Gläubigen eine Selbstverständlichkeit und nur in der Fremdbeobachtung eine Paradoxie. Zweitens folgte der Hinweis auf die möglichen Umgangsformen mit dem Paradoxen, besonders auf die Temporalisierung (Alois Hahn: die Zeit als eine „Entparadoxierungsmaschine“); drittens der Hinweis auf das Exil als Erzählschema, ein Schema das Grenzgänge zwischen Innen- und Außenräumen, zwischen Machträumen, sozialen Räumen, zwischen Innenwelten und Außenwelten zu bewältigen sucht.

PATRICK HENRIET (Bordeaux), „Le corps de la recluse et la déspatialisation du sacré“, arbeitete über die in vielfacher Hinsicht paradoxen Phänomene der Verräumlichung und Enträumlichung des Heiligen (spatialisation et déspatialisation): Den Ausgangsbefund liefert ein Text zum Leben der Heiligen Alpais, einer durch die Jungfrau Maria teilweise geheilten Bauerntochter, die zeitlebens an ihr Bett gefesselt im französischen Dorf Cudot, 30 km südlich von Sens, Mittelpunkt der volkstümlichen Verehrung und Pilgerort wird. In präziser Konzentration auf die bereits zu Lebzeiten entstandene Vita der Heiligen 6 führte Henriet das Potenzial dieses Textes vor Augen: 1. Der Körper der Heiligen als lebende Reliquie. Nach der partiellen Heiligung des Mädchens erfährt ihr Körper zunächst eine wundersame Transformation: Eine am Krankenbett anwesende Person nimmt den Finger des gelähmten Mädchen und legt ihn einem tauben Kind in den Mund. Das taube Kind wird geheilt und der Köper der gelähmten Alpais wird zur Reliquie. 2. Alpais, Meisterin des Raumes (maîtresse de l’espace). Der private Raum im Umfeld des gänzlich immobilen Mädchens, ihr Bett und Zimmer werden zum Ort globaler, ja kosmischer Visionen, Alpais schaut in verschiedenen Visionen die Universalität der Christenheit, den gesamten Erdball (globum terre) mit all seinen Kirchen, Klöstern, Mönchen, Dämonen etc. und schließlich vor einem geschauten Altar der heiligen Jungfrau die Kirche als Baum, der den gesamten Raum einnimmt. Die immobile Heilige kennt also den gesamten Weltenraum, schaut das Weltgeschehen bis an die Grenzen des fassbaren Raumes. 3. Die Grenzen der „Enträumlichung“. Nur angedeutet werden diese in der Vita der Alpais, verfasst von einem anonymen Zisterzienser, nämlich in der verhaltenen Beschreibung der Grenzen ihres Krankenzimmers, das um ihr Bett herum angeordnet ist, wie die Kirche um das Heiligtum. Hier erkennt Henriet leise Hinweise auf die Grenzen dieser Biographie der Entgrenztheit, nämlich in der Autorität des kirchlich sozialen Umfelds, der bäuerlichen Familie und der, in Cudot ansässigen Kanonikergemeinschaft, unter deren Schutz Alpais steht. une sorte de ‚despatialisation’ idéelle du sacré.

LAURA GAFFURI (Turin) lenkte in ihrem Vortrag “In amplificationem sancte matris ecclesie: forme e contesti del rinnovamento dello spazio rituale delle chiese urbane nel XV secolo” die Aufmerksamkeit abschließend auf Formen und Widersprüche der Erneuerung ritueller Räume in den städtischen Diozesen des fünfzehnten Jahrhunderts. Ihr Beitrag beschäftigte sich mit der Entwicklung neuer Formen der Heiligenverehrung in den traditionellen Pfarrkirchen, Taufkirchen und Kathedralkirchen des ausgehenden italienischen Mittelalters. Die neuen Formen der Be- und Umschreibung von Heiligenkulten, die lokal durch Wunder und Translationen dokumentiert wurde, setzten Prozesse in Gang, die als Akkumulation des "symbolischen Kapitals" definiert werden können. Diese Kulte hatten eine legitimatorische Funktion für die Pfarr- und Taufkirchen und Kathedralen, die im ausgehenden Mittelalter ihre Rolle als Dreh- und Angelpunkte des gemeinsamen Glaubens und der gemeinschaftlichen Heiligenverehrung zurück gewinnen und damit ihre Bedeutung als Bezugspunkt der städtischen Identitäten einfordern konnten.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die „Paradoxien der Legitimation“ nicht allein die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Mediävisten gefördert haben. Nicht nur die Abschlussdiskussion der Tagung machte deutlich, welch zentralen Beitrag die kulturhistorische Erforschung der Vormoderne zur Grundlagenforschung im Bereich der unlogischen Wahrheiten leistet: Ein Beitrag, der für das Verständnis und die Gestaltung einer postmodernen Zukunft richtungweisend werden könnte. An Anschlussprojekten wird gearbeitet.

Kurzübersicht

Paradoxien der Legitimation: Eine Einleitung zur Abschlusstagung
Annette Kehnel, Cécile Caby, Cristina Andenna, Gert Melville
Dallo spazio del corpo allo spazio universale. Stratigrafia e geografia dei miracoli postumi di Francesco d'Assisi in Celano e Bonaventura
Jacques Dalarun
Meraviglie in pietra e nello spazio: Le dimensioni teologiche dei racconti miracolosi in Celano e Bonaventura
Timothy Johnson
Chiese senza immagini. Il mito delle origini aniconiche e la sua fortuna in età medievale
Luigi Canetti
Zur Symbolik klösterlicher Räume
Anne Müller
Nackt, geplündert und verlassen: eine Herrscherleiche zwischen jus spolii, Karneval und "Zwei-Körper-Theorie".
Michail Boytsov
Exil. Legitimation durch Unverfügbarkeit
Martial Staub
Co-Referat: Peter Strohschneider
Le corps de la recluse et la déspatialisation du sacré
Patrick Henriet
"In amplificationem sancte matris ecclesie": forme e contesti del rinnovamento dello spazio rituale delle chiese urbane nel XV secolo.
Laura Gaffuri
Workshop: Körper, Zeit und Raum: Probleme der Verschriftlichung
Exkursion mit Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Tagungsbericht: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1562>.
2 Tagungsbericht: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1880>.
3Vgl. Roland Hagenbüchle und Paul Geyer (Hrsg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, 2. Aufl., Würzburg 2002.
4 Gregg Easterbrook, The Progress Paradox. How Life gets better, while people feel worse, London 2004.
5 Paul Watzlawick [u.a], Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 11. unver. Auflage, Bern 2007.
6 Leben und Visionen der Alpais von Cudot (1150-1211), ed. E. Stein, Tübingen 1995.


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